„Jeder Mensch ist ein Original und hat das unveräußerbare Recht, als solches wahr- und ernstgenommen zu werden.“
– Oskar Dierbach,
Pflegefachkraft, Sozialpädagoge, Fachbuchautor, Projektleiter Reha-Pflege, ehem. Geschäftsführer Evangelische Altenhilfe Mülheim a. d. Ruhr gGmbH
Die therapeutisch-rehabilitative Altenpflege nutzt jede Chance, um Menschen wieder Würde bis zum letzten Tag im Leben zu geben. Gerade auch, wenn es schwierig ist, z. B. im Altenheim.
Durch das intensive Zusammenspiel aller Akteure von den Ärzten über Pflegekräfte, Apotheker bis hin zu Therapeuten und Angehörigen wird die Therapie ganzheitlich und eröffnet neue Lebensperspektiven.
Selbst die Rückkehr in die angestammte Umgebung ist in einigen Fällen vorstellbar.
Pflegeheime sind nicht als Rehakliniken gedacht. Das will der therapeutische-rehabilitative Pflegeansatz auch gar nicht. Vielmehr soll Rehabilitation individuell in die Alltagsnormalität der Pflege integriert werden: Pflegekräfte unterstützen Therapeuten, Therapeuten sind Praxisanleiter für Pflege- und Betreuungskräfte.
Rehabilitation in der Langzeitpflege ist auch nicht gänzlich neu; therapeutische-rehabilitative Pflege systematisiert und transformiert lediglich Bestehendes und sucht bei jedem einzelnen Menschen nach Ressourcen, wie er oder sie unabhängig von Vorerkrankungen und Einschränkungen wieder mehr Lebensqualität und Selbstständigkeit erreichen kann.
Dazu gehört das Recht auf Würde und Selbstbestimmung: Auch nach schweren Erkrankungen oder Schicksalsschlägen sucht dieser Pflegeansatz nach Möglichkeiten, die Lebenssituation des Einzelnen zu verbessern.
Einige der Betroffenen können wieder nach Hause, andere erleben im Altenheim oder im betreuten Wohnen ein erfülltes Leben mit größtmöglicher Selbstständigkeit.
Im Sozialgesetzbuch (SGB) § 2 Abs. 1 SGB XI wird u.a. ausgeführt:
„Selbstbestimmung. Die Leistungen der Pflegeversicherung sollen den Pflegebedürftigen helfen, trotz ihres Hilfebedarfs ein möglichst selbstständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht. Die Hilfen sind darauf auszurichten, die körperlichen, geistigen und seelischen Kräfte der Pflegebedürftigen, auch in Form der aktivierenden Pflege, wiederzugewinnen oder zu erhalten.“
In § 85 Abs. 1 SGB XI ist die Pflegekostenverhandlung für stationäre Einrichtungen geregelt. Diese sieht Gesundheitskosten und Pflegekosten sowie Kosten der sozialen Betreuung vor, jedoch keine Kosten für Rehabilitation.
Die stationären Einrichtungen verhandeln mit den Pflegekassen nach SGB XI Gesundheitskosten, Pflegekosten sowie Kosten der sozialen Betreuung.
Kosten für eine Reha-Therapie werden entweder von der Rentenkasse oder der Krankenkasse getragen und sind in der Regel auf wenige Wochen im Jahr beschränkt.
Das hat zur Folge, dass jemand, der in einer stationären Einrichtung lebt, keine langfristigen rehabilitativen Maßnahmen mehr von den Kostenträgern finanziert bekommt; er gilt als „austherapiert“. Diese zeitliche Beschränkung erweist sich vor allem für alte Menschen als Konstruktionsfehler.
Die Vergütung der Pflegeeinrichtung orientiert sich an dem Pflegegrad des Bewohners: je höher der Pflegegrad, also je weniger der Bewohner noch selber machen kann, umso mehr Geld erhält die Einrichtung von der Pflegekasse.
Umgekehrt werden Aufwände, die eine Einrichtung unternimmt, um verlorene Fähigkeiten wieder herzustellen, nicht erstattet.
Diese Vergütungsregelung ist für die in § 2 Abs. 1 geregelten Hilfen zur Erhaltung der Selbstbestimmung des pflegebedürftigen Menschen wenig förderlich.
Es gibt jedoch auch Einrichtungen, die sich mehr den Ressourcen als den Defiziten eines Bewohners zuwenden. Diese Einrichtungen haben Wege gefunden, Finanzmittel über Fördervereine und Spenden zu akquirieren und/oder sie werden von Kostenträgern unterstützt, mit denen sie über individuelle Rahmenverträge eine höhere Personalausstattung aufgrund besonderer Einrichtungskonzepte verhandelt haben.
Die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen gewinnen Lebensqualität, mehr Selbstbestimmung und Mitsprache bei den geplanten Maßnahmen.
Die Beschäftigten in der Pflege erfahren Motivation und Sinnerfüllung. Sie unterstützen Menschen dabei, Lebensmut und Fähigkeiten zurückzugewinnen – so gewinnt der Beruf an Attraktivität und Akzeptanz.
Gute Pflege wird bezahlbarer, und zwar durch weniger Einsatz von Medikamenten, weniger Krankenhausaufenthalte in der Langzeitpflege, späteren Eintritt in die Pflegebedürftigkeit bzw. niedrigere Pflegegrade.
Therapeutische Pflege ist der Schlüssel zur Wiederherstellung von Gesundheit und Wohlbefinden. Sie verbindet Heilung mit Hoffnung. Rehabilitative Pflege bedeutet, die Bewohnerinnen und Bewohner nicht nur zu versorgen, sondern ihnen auch die Werkzeuge zu geben, um ihre Unabhängigkeit zurückzugewinnen. Therapeutische Pflege mit rehabilitativen Anteilen stärkt die Bewohnerinnen und Bewohner und gibt ihnen die Kraft, ihre eigenen Gesundheitsziele zu erreichen.
Menschen mit Demenz führen ein intensives Innenleben. Der Bereich im Gehirn, der Erinnerungen mit Musik verknüpft, ist noch sehr lange unversehrt.
Wenn Musik als Schlüsselfindung eingesetzt wird, gelingt es, mithilfe des Wissens über die Biographie des Menschen, die Lieder oder Musikstücke zu finden, die Erinnerung und somit ein „Wachwerden“ triggern.
Bei anderen Bewohnern ist es der schöne Geruch oder die Farbe einer Blume im Garten oder die Augen oder das Fell eines geliebten Haustieres.
Dies braucht Zeit und Biographiearbeit, denn entscheidend für den Erfolg der therapeutisch-rehabilitative Altenpflege sind Motivation und Kooperationsbereitschaft des Bewohners.
Bei Frau B. z.B. rufen Trommelklänge und Gesang fröhliche Bilder ihrer ersten Liebe hervor. Sie findet so Wege aus ihrem sozialen Rückzug – und dies trotz Demenz und depressiver Verstimmung. Wer das bewirken kann, erlebt tiefe Sinnerfüllung im Beruf. Das ist viel mehr als nur gute Bezahlung.
Um bei dem Einzelnen den Schlüssel zu finden, benötigen die Pflege- und Betreuungskräfte sowie die therapeutischen Kräfte hinreichend Zeit, um die Wünsche und Ressourcen des Menschen zu entdecken.
Manchmal kommen aber auch wichtige Hinweise zur Schlüsselfindung von anderen Berufsgruppen, die in der Einrichtung arbeiten. Ein Beispiel ist, dass eine Bewohnerin der Hausreinigungskraft ihr Herz ausschüttet, während diese das Bewohnerzimmer reinigt.
Therapeutisch-rehabilitative Altenpflege setzt voraus, dass alle Berufsgruppen eng, vertrauensvoll und auf Augenhöhe zusammenarbeiten. In verschiedenen Besprechungen tauschen sie sich über die Betroffenen und deren Ressourcen, Erkrankungen, Medikamente, Therapien und Fortschritte aus.
Gemeinsam entwickelt das interprofessionelle Team vom ersten Tag an ein individuelles Pflege- und Therapiekonzept, das periodisch evaluiert wird.
Im Zentrum der therapeutisch-rehabilitativen Altenpflege steht die interprofessionelle Zusammenarbeit der verschiedenen Berufsgruppen.
Interne und externe Kräfte arbeiten gemeinsam an individuellen Maßnahmenplänen – zum Wohl der betreuten Menschen. Das interprofessionelle Team trifft sich je nach Bedarf in unterschiedlichen Zusammensetzungen und zeitlichen Abständen.
Im Gespräch mit Pflegefachkräften wurde immer wieder erwähnt, wie sehr die Pflegekräfte es als Würdigung ihrer Arbeit verstanden haben, Teil dieser interprofessionellen Zusammenarbeit zu sein und sie das Gefühl hatten, gehört zu werden.
Mitwirkende Berufsgruppen sind:
Die Pflegekräfte integrieren therapeutische Impulse in den Pflegealltag. Sie passen die Momente ab, in denen therapeutische Maßnahmen sinnvoll sind – und der Bewohner aufnahmefähig ist. So findet die therapeutische Arbeit begleitend im Alltag statt und entfaltet dadurch eine hohe Wirkung.
Praxisbeispiel: Aus dem Bett an die Ruhr
Hirnblutung, Krankenhaus, Früh-Reha und dann doch Pflegeheim und Bettlägerigkeit – im Alter kein seltener Weg.
Was, wenn dann die ganze Kunst neurologischer Reha in kleinen Bausteinen ins Pflegeheim kommt?
Wenn die Reha sozusagen gleichzeitig mit der Grundversorgung stattfindet, also permanent in die Alltagsnormalität eingebaut wird? Wenn der Betroffene mitbestimmt, wann und wie viel Training möglich ist?
Dann wird der Traum auch bei schweren Fällen und im Alter Wirklichkeit: aus dem Bett an die Ruhr.
Therapeutisch-rehabilitative Altenpflege kombiniert verschiedene Therapien zu einem individuellen Maßnahmenplan.
Die Vielfalt aus Physiotherapie, Motopädie, Logopädie, Ergotherapie, Musikgeragogik, Kunstgeragogik etc. ermöglicht es, auf die Interessen und Ressourcen des einzelnen Bewohners einzugehen.
Aus der Depression nach Hause
Frau F. lebte alleine, stürzte und brach sich den Oberschenkelhals. Nach erfolgreicher OP stürzte sie leider ein zweites Mal mit schwerwiegenden Komplikationen, sodass sie bettlägerig in ein Pflegeheim überwiesen werden musste. Sie verlor ihren Lebensmut und verfiel in eine schwere Depression.
Doch nach einigen Wochen konnte sie in die rehabilitative Pflege umziehen. Gemeinsam mit Psychotherapeuten, Seelsorgern und Physiotherapeuten erfolgte ein Muskelaufbau, ein Kontinenztraining, eine Mobilisation, die es erlaubte, wieder das Bett zu verlassen. Im Anschluss erfolgte Rollstuhltraining, eine soziale Betreuung, Teilnahme an kulturellen Angeboten.
Nach einer Weile konnte das Rollatortraining für das selbstständige Gehen beginnen, kombiniert mit entsprechendem Herzsport konnte sie nach Monaten wieder in Ihr eigenes Haus umziehen.
„Die therapeutisch-rehabilitative Altenpflege ist unverzichtbar, weil sie die alten Menschen wieder in geistige und körperliche Beweglichkeit bringt.“
– Dr. Hermann Liekfeld,
Apotheker
Lassen Sie uns über Visionen, Kompetenzen und Ressourcen sprechen, damit wir Wege für die Einführung des therapeutisch-rehabilitativen Pflegemodells (auch in Ihrer Einrichtung) finden.